Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH zum Verfall von Urlaubsansprüchen: Gilt die 15-Monatsfrist auch bei unterlassener Mitwirkung des Arbeitgebers?

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in einem von DANCKELMANN UND KERST begleiteten Rechtsstreit (9 AZR 245/19 (A)) mit Beschluss vom 07.07.2020 entschieden, den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über folgende Fragen zu ersuchen:

1. Stehen Art. 7 RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union der Auslegung einer nationalen Regelung wie § 7 Abs. 3 BUrlG entgegen, der zufolge der bisher nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines Arbeitnehmers, bei dem im Verlauf des Urlaubsjahres aus gesundheitlichen Gründen eine volle Erwerbsminderung eintritt, der den Urlaub aber vor Beginn seiner Erwerbsminderung im Urlaubsjahr - zumindest teilweise - noch hätte nehmen können, bei ununterbrochen fortbestehender Erwerbsminderung 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres auch in dem Fall erlischt, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben?

2. Sofern die Frage zu 1. bejaht wird: Ist unter diesen Voraussetzungen bei fortbestehender voller Erwerbsminderung auch ein Verfall zu einem späteren Zeitpunkt ausgeschlossen?

Die Vorlagefragen ergeben sich aus folgenden Aspekten des Falls (vgl. auch Pressemitteilung des BAG vom 07.07.2020, Nr. 21/20):

Der Kläger, ein als schwerbehinderter Mensch anerkannter Arbeitnehmer, ist seit dem Jahr 2000 als Frachtfahrer bei der Beklagten beschäftigt. Seit dem 1. Dezember 2014 bezieht er eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, die zuletzt bis August 2019 verlängert wurde.

Im Wege der Klage hat er unter anderem geltend gemacht, ihm stünden gegen die Beklagte Arbeitgeberin noch 34 Arbeitstage Urlaub aus dem Jahr 2014 zu. Nach Auffassung des Klägers sind diese Urlaubsansprüche nicht verfallen, weil die Beklagte ihren Obliegenheiten, an der Gewährung und Inanspruchnahme von Urlaub mitzuwirken, nicht nachgekommen sei.

Das Bestehen dieser Obliegenheiten wurde in den Entscheidungen des EuGH und des BAG vom November 2018/Februar 2019 festgestellt (vgl. Entscheidungen des EuGH vom 6. November 2018 - C-684/16 („Max-Planck“) und des BAG vom 19. Februar 2019 - 9 AZR 423/16, 9 AZR 541/15 und 9 AZR 321/16).

Die Beklagte vertritt die Rechtsauffassung, dass der im Jahr 2014 nicht genommene Urlaub des Klägers jedenfalls mit Ablauf des 31. März 2016 erloschen sei. Nach Auffassung der Beklagten bestehen Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers nicht, wenn ein Arbeitnehmer - wie vorliegend aufgrund einer vollen Erwerbsminderung - aus gesundheitlichen Gründen langandauernd außerstande ist, seinen Urlaub anzutreten. Der Verfall tritt nach Auffassung der Beklagten in diesem Fall 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres ein, unabhängig von der Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten.

In erster und zweiter Instanz wurde die Klage abgewiesen. Für die Entscheidung, ob der Urlaub des Klägers aus dem Jahr 2014 am 31. März 2016 oder ggf. zu einem späteren Zeitpunkt verfallen ist, kommt es nach Auffassung des Revisionsgerichts auf die Auslegung von Unionsrecht an. In der Pressemitteilung des BAG vom 07.07.2020, Nr. 21/20, wird diesbezüglich ausgeführt:

„Für die Entscheidung des Rechtstreits bedarf es nunmehr einer Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union, ob das Unionsrecht den Verfall des Urlaubsanspruchs nach Ablauf dieser 15-Monatsfrist oder ggf. einer längeren Frist auch dann gestattet, wenn der Arbeitgeber im Urlaubsjahr seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat, obwohl der Arbeitnehmer den Urlaub im Urlaubsjahr bis zum Zeitpunkt des Eintritts der vollen Erwerbsminderung zumindest teilweise hätte nehmen können.“

In einem weiteren Verfahren vor dem BAG (9 AZR 401/19 (A)) geht es um einen ähnlich gelagerten Fall, jedoch im Zusammenhang mit einer langandauernden Arbeitsunfähigkeit. Dort stellt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub einer im Verlauf des Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmerin bei seither ununterbrochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres oder ggf. zu einem späteren Zeitpunkt verfallen kann, wenn der Arbeitgeber im Urlaubsjahr seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat, obwohl die Arbeitnehmerin den Urlaub bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zumindest teilweise hätte nehmen können. Auch diese Frage wurde dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt (vgl. Pressemitteilung des BAG vom 07.07.2020, Nr. 20/20).

Es bleibt abzuwarten, wie der EuGH die spannende Rechtsfrage zum Bestehen oder Nichtbestehen der Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers als Voraussetzung für den Verfall von Urlaubsansprüchen nach Ablauf der 15-Monatsfrist oder ggf. einer längeren Frist beurteilt, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub wegen des Eintritts voller Erwerbsminderung oder langanhaltender Erkrankung im Urlaubsjahr nicht mehr (vollständig) nehmen konnte.



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